Samstag, 26. Juni 2010
Kapitel 1 (Seite 1-3)
Karin kommt nach Berga
Nie hatte Karin sich vorgestellt, daß es von Stockholm bis Västeraker so weit sein könnte. Doch nun war sie endlich da. Der Zug hielt mit einem so kräftigen Ruck an, daß sie beinahe platt auf die Nase gefallen wäre. Sie ergriff ihre beiden Taschen und beeilte sich, aus dem Wagen zu kommen.
Sie sprang die hohen Wagentritte hinunter und stellte die zwei Taschen neben sich auf den Bahnsteig. Da stand sie nun also und wartete, ein kleines, zartes Mädchen mit lichtblauen Augen und zwei hellbraunen Zöpfen, die in hübsche Ringellocken ausliefen und an ihren Enden mit hellblauen Seidenbändern gebunden waren. Sie trug ihre Schulmütze mit der silbernen Erkennungsmarke, dazu einen hellblauen Mantel, weiße Strümpfe und Lackschuhe.
Sie stand da und blickte über den kleinen Bahnhof hin, als erwartete sie jeden Augenblick, es sollte jemand kommen, sie herzlich in die Arme schließen und zu ihr sagen: Willkommen, mein liebes Kind!
Doch es kam niemand, und niemand kümmerte sich um das kleine Mädchen in dem hellblauen Mantel. Das eben noch so muntere, frische und erwartungsvolle Gesicht begann einen nachdenklichen und besorgten Ausdruck anzunehmen. Sie ergriff mit jeder Hand eine ihrer Taschen und ging langsam auf das Stationsgebäude zu.
Hinter ihr rollte der Zug wieder weg, nachdem ein paar neue Fahrgäste eingestiegen waren.
Mit einem Seufzer stellte Karin die beiden Reisetaschen hin und setzte sich auf eine der harten Bänke, die den Wänden des Bahnhofgebäudes entlang aufgestellt waren. Es fanden sich hier auf der kleinen Station nicht viele Leute. Eine merkwürdig aussehende Alte in abgetragenen und zerschlissenen Kleidern setzte sich neben das Mädchen auf die Bank und begann ein paar ausgedörrte Wurstbrötchen zu verzehren. Als sie mit ihrer Mahlzeit zu Ende war, zog sie einen halbfertigen Abwaschlappen aus ihrer Handtasche und strickte mühsam daran weiter. Von Zeit zu Zeit warf sie einen forschenden Blick auf Karin. Schließlich rückte sie näher heran, suchte einen fertigen Lappen hervor, und indem sie sich so nahe über das Mädchen beugte, daß sie fast dessen Gesicht berührte, fragte sie: “Will das kleine Fräulein nicht einen Waschlappen als Geschenk für seine Mama kaufen?“
Doch bevor die Alte mit ihrer Frage nur richtig zu Ende gekommen war, entdeckte sie, daß die Augen des Kindes sich plötzlich mit Tränen gefüllt hatten, die darauf und daran waren, ihm über die Wangen zu kollern.
Karin strich diese Tränen hastig weg und lächelte etwas verlegen. “Ich habe keine Mama mehr“, gab sie zurück.
Die Alte ließ den Lappen in ihren Schoß fallen und schüttelte mitleidig den Kopf, so daß die Blumen auf ihrem altmodischen Sommerhut hin und her schwankten. “Ach, keine Mama mehr?“ rief sie aus. “Armes, armes Kind!“ “Nein, und auch keinen Papa mehr“, erklärte Karin weiter. “Papa war Kapitän, und das Schiff lief auf eine Mine auf. Und bald darauf starb Mama an der Grippe“. “Armes Kind!“ rief die Alte noch einmal. „Ja, aber Tante Lundkvist hat mir in allem zurecht geholfen“, fuhr Karin fort. „Sie wohnte ganz in unserer Nähe. Sie ist zwar eigentlich nicht meine Tante. Aber meine Eltern waren so gut mit ihr und ihrem Mann befreundet, daß ich sie Tante und Onkel nennen durfte. Und sie dachte auch, es würde nichts ausmachen, einen hellblauen Mantel zu kaufen statt eines schwarzen. Hellblau war die Lieblingsfarbe meiner Mutter. Und man trauert ja nicht mit den Kleidern, sondern mit dem Herzen, sagte die Tante“. „Das ist wahr, wirklich und wahrhaftig wahr“, bestätigte die Alte. „Aber was will das kleine Fräulein hier nun anfangen?“
„Ich soll nach Berga gehen. Mein Vater hatte dort zwei alte Tanten, die einen Kaufladen führen. Aber da war niemand hier am Zug, obwohl Tante Lundkvist hingeschrieben und genau angegeben hatte, wann ich ankommen würde“.
Das war merkwürdig. Die beiden saßen da und sannen über die Sache nach, und sobald Schritte sich nährten oder eine Tür im Stationsgebäude ging, fuhren sie auf und starrten dem Ankommenden entgegen. Aber keiner von ihnen schien ein kleines Mädchen in Empfang nehmen zu wollen, das nach Berga reisen sollte. „Ist es weit bis Berga?“ erkundigte sich Karin schließlich.
„Oh, ein gutes Stück“. Ich kenne hier alle Ortschaften ringsherum. Ich habe hier in der Gegend hausiert, mit Spitzen und Bändern und solchen Sachen, weißt du. Aber warte, da läuft ein kleiner Pfad der Bahnlinie entlang. Wenn du den nimmst, so hast du bloß eine Stunde. Es ist eine Abkürzung. Die Landstraße ist bedeutend länger.“
Karin nahm ihre beiden Taschen wieder auf. Die Alte ging mit und zeigte ihr den schmalen Feldweg, dem sie zu folgen hatte. „Du mußt nur aufpassen, daß du nicht auf die Schienen gerätst“, setzte sie mahnend hinzu, „sonst wirst du vom Zug überfahren.“
Karin versprach aufzupassen. Dann verabschiedete sie sich mit vielem Dank und begann ihre Wanderung. Es war Anfang Juni, im Jahre nach dem ersten Weltkrieg. Mama war im März gestorben, und Karin hatte noch bis zum Schluß des Schuljahres im Sommer bei Tante Lundkvist wohnen bleiben dürfen.
Nun ging sie diesen schmalen Pfad entlang und schleppte sich mit den beiden Taschen ab. Die eine davon war entsetzlich schwer. Darein hatte sie ihre Schulbücher gepackt und auch ein paar andere, von denen sie sich nicht zu trennen vermochte. Die zweite Tasche barg ihre Kleider.
von Ebba Edskog, aus dem Schwedischen übersetzt von Martha Niggli mit Zeichnungen von Martha Bertina
Nie hatte Karin sich vorgestellt, daß es von Stockholm bis Västeraker so weit sein könnte. Doch nun war sie endlich da. Der Zug hielt mit einem so kräftigen Ruck an, daß sie beinahe platt auf die Nase gefallen wäre. Sie ergriff ihre beiden Taschen und beeilte sich, aus dem Wagen zu kommen.
Sie sprang die hohen Wagentritte hinunter und stellte die zwei Taschen neben sich auf den Bahnsteig. Da stand sie nun also und wartete, ein kleines, zartes Mädchen mit lichtblauen Augen und zwei hellbraunen Zöpfen, die in hübsche Ringellocken ausliefen und an ihren Enden mit hellblauen Seidenbändern gebunden waren. Sie trug ihre Schulmütze mit der silbernen Erkennungsmarke, dazu einen hellblauen Mantel, weiße Strümpfe und Lackschuhe.
Sie stand da und blickte über den kleinen Bahnhof hin, als erwartete sie jeden Augenblick, es sollte jemand kommen, sie herzlich in die Arme schließen und zu ihr sagen: Willkommen, mein liebes Kind!
Doch es kam niemand, und niemand kümmerte sich um das kleine Mädchen in dem hellblauen Mantel. Das eben noch so muntere, frische und erwartungsvolle Gesicht begann einen nachdenklichen und besorgten Ausdruck anzunehmen. Sie ergriff mit jeder Hand eine ihrer Taschen und ging langsam auf das Stationsgebäude zu.
Hinter ihr rollte der Zug wieder weg, nachdem ein paar neue Fahrgäste eingestiegen waren.
Mit einem Seufzer stellte Karin die beiden Reisetaschen hin und setzte sich auf eine der harten Bänke, die den Wänden des Bahnhofgebäudes entlang aufgestellt waren. Es fanden sich hier auf der kleinen Station nicht viele Leute. Eine merkwürdig aussehende Alte in abgetragenen und zerschlissenen Kleidern setzte sich neben das Mädchen auf die Bank und begann ein paar ausgedörrte Wurstbrötchen zu verzehren. Als sie mit ihrer Mahlzeit zu Ende war, zog sie einen halbfertigen Abwaschlappen aus ihrer Handtasche und strickte mühsam daran weiter. Von Zeit zu Zeit warf sie einen forschenden Blick auf Karin. Schließlich rückte sie näher heran, suchte einen fertigen Lappen hervor, und indem sie sich so nahe über das Mädchen beugte, daß sie fast dessen Gesicht berührte, fragte sie: “Will das kleine Fräulein nicht einen Waschlappen als Geschenk für seine Mama kaufen?“
Doch bevor die Alte mit ihrer Frage nur richtig zu Ende gekommen war, entdeckte sie, daß die Augen des Kindes sich plötzlich mit Tränen gefüllt hatten, die darauf und daran waren, ihm über die Wangen zu kollern.
Karin strich diese Tränen hastig weg und lächelte etwas verlegen. “Ich habe keine Mama mehr“, gab sie zurück.
Die Alte ließ den Lappen in ihren Schoß fallen und schüttelte mitleidig den Kopf, so daß die Blumen auf ihrem altmodischen Sommerhut hin und her schwankten. “Ach, keine Mama mehr?“ rief sie aus. “Armes, armes Kind!“ “Nein, und auch keinen Papa mehr“, erklärte Karin weiter. “Papa war Kapitän, und das Schiff lief auf eine Mine auf. Und bald darauf starb Mama an der Grippe“. “Armes Kind!“ rief die Alte noch einmal. „Ja, aber Tante Lundkvist hat mir in allem zurecht geholfen“, fuhr Karin fort. „Sie wohnte ganz in unserer Nähe. Sie ist zwar eigentlich nicht meine Tante. Aber meine Eltern waren so gut mit ihr und ihrem Mann befreundet, daß ich sie Tante und Onkel nennen durfte. Und sie dachte auch, es würde nichts ausmachen, einen hellblauen Mantel zu kaufen statt eines schwarzen. Hellblau war die Lieblingsfarbe meiner Mutter. Und man trauert ja nicht mit den Kleidern, sondern mit dem Herzen, sagte die Tante“. „Das ist wahr, wirklich und wahrhaftig wahr“, bestätigte die Alte. „Aber was will das kleine Fräulein hier nun anfangen?“
„Ich soll nach Berga gehen. Mein Vater hatte dort zwei alte Tanten, die einen Kaufladen führen. Aber da war niemand hier am Zug, obwohl Tante Lundkvist hingeschrieben und genau angegeben hatte, wann ich ankommen würde“.
Das war merkwürdig. Die beiden saßen da und sannen über die Sache nach, und sobald Schritte sich nährten oder eine Tür im Stationsgebäude ging, fuhren sie auf und starrten dem Ankommenden entgegen. Aber keiner von ihnen schien ein kleines Mädchen in Empfang nehmen zu wollen, das nach Berga reisen sollte. „Ist es weit bis Berga?“ erkundigte sich Karin schließlich.
„Oh, ein gutes Stück“. Ich kenne hier alle Ortschaften ringsherum. Ich habe hier in der Gegend hausiert, mit Spitzen und Bändern und solchen Sachen, weißt du. Aber warte, da läuft ein kleiner Pfad der Bahnlinie entlang. Wenn du den nimmst, so hast du bloß eine Stunde. Es ist eine Abkürzung. Die Landstraße ist bedeutend länger.“
Karin nahm ihre beiden Taschen wieder auf. Die Alte ging mit und zeigte ihr den schmalen Feldweg, dem sie zu folgen hatte. „Du mußt nur aufpassen, daß du nicht auf die Schienen gerätst“, setzte sie mahnend hinzu, „sonst wirst du vom Zug überfahren.“
Karin versprach aufzupassen. Dann verabschiedete sie sich mit vielem Dank und begann ihre Wanderung. Es war Anfang Juni, im Jahre nach dem ersten Weltkrieg. Mama war im März gestorben, und Karin hatte noch bis zum Schluß des Schuljahres im Sommer bei Tante Lundkvist wohnen bleiben dürfen.
Nun ging sie diesen schmalen Pfad entlang und schleppte sich mit den beiden Taschen ab. Die eine davon war entsetzlich schwer. Darein hatte sie ihre Schulbücher gepackt und auch ein paar andere, von denen sie sich nicht zu trennen vermochte. Die zweite Tasche barg ihre Kleider.
von Ebba Edskog, aus dem Schwedischen übersetzt von Martha Niggli mit Zeichnungen von Martha Bertina
Karin besteht ihr Examen
Leseprobe:
Der Herbst ist gekommen
Der Herbstwind fuhr heulend und sausend über die weiten Felder des Landes Schweden dahin. Er kam bis zur Mühle von Berga unten am Fluß, umfaßte sie wie mit Krallen, rüttelte und schüttelte sie und erhob sich dann wieder, um in den Weiler selbst einzudringen, der oben auf der Hochfläche lag. Er umwinselte Johnssons Hof, brachte die Ziegel auf dem Dach zum Klappern und riß das letzte Laub von den Bäumen, um dann mit aller Gewalt über den rotbemalten Kaufladen der Schwestern Hakansson herzufallen, der im selben Gehege lag.
Drinnen aber im kleinen Kontor brannte ein munteres Feuer im Kachelofen, zum großen Vergnügen des Hundes King, der in seinem Korb am Boden lag, sich reckte und dehnte, um von neuem die Vordertatzen über die Nase zu legen und weiterzuschlafen. Hin und wieder öffnete er ein Auge, um nach den beiden Mädchen zu blinzeln, die an Großtante Karins altmodischem Schreibtisch saßen und ihre Aufgaben zu lösen versuchten.
Klein-Karin faltete die Hände im Nacken und stieß einen tiefen Seufzer aus. "Ich kann nicht verstehen, warum man in dieser Algebra mit Buchstaben rechnet und nicht mit Ziffern. Da werde der Kuckuck klug daraus, aber nicht ich".
von Ebba Edskog, aus dem Schwedischen übersetzt von Martha Niggli mit Zeichnungen von Martha Bertina
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